Nocebo-Effekt und psychogene Fehldiagnosen
Aktualisiert am 16.01.2024
Die Annahme eines Nocebo-Effekts als Erklärungsfaktor für die elektrische Empfindlichkeit kann als zweckorientierte Nichtigerklärung der Krankheit betrachtet werden.
Die Annahme des Nocebo-Effekts als Erklärungsfaktor für Elektrosensibilität kann als bewusste Negierung der Krankheit angesehen werden. Obwohl der Nocebo-Effekt ein reales Phänomen ist, hat er auch Auswirkungen auf andere Bereiche der Medizin und nicht nur auf die Elektrosensibilität.
Wenn z. B. einem Patienten mit einer anderen Krankheit ein Medikament verschrieben wird und der Arzt ihm mitteilt, dass das Medikament starke Nebenwirkungen hat, kann man davon ausgehen, dass der Patient aufgrund des Nocebo-Effekts unerwünschte Wirkungen erfährt. Eine negative Erfahrung mit dem Placebo-Effekt schließt jedoch nicht aus, dass Medikamente auch reale Nebenwirkungen haben, die unabhängig von den negativen Vorurteilen des Patienten sind.
Dies ist auch bei der Elektrosensibilität der Fall. Elektromagnetische Felder verursachen reale unerwünschte Wirkungen, die unabhängig von den negativen Vorurteilen des Patienten sind.
Der Effekt des Nocebo-Effekts spielt bei der Elektrosensibilität eine reale, aber untergeordnete Rolle. Er kann als Folge der Tatsache verstanden werden, dass der Patient zuvor starke Symptome aufgrund elektromagnetischer Exposition erlebt hat und daher darauf konditioniert ist, diese zu fürchten. Eine solche Konditionierung schließt jedoch nicht aus, dass der elektrosensible Patient auch unabhängig von dieser Konditionierung starke Symptome erlebt.
Kein Nocebo-Effekt- WLAN beeinlusst nachweislich Gehirnströme
Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Hilft die Entscheidung, nicht darauf zu achten?
Aufgrund der Denkweise, dass EHS durch somatosensorische Verstärkung oder Nocebo-Effekt verursacht wird, wird in der medizinischen Fachwelt oft vorgeschlagen, dass die „Behandlung“ von Elektrosensibilität einfach darin besteht, zu lernen, elektromagnetische Felder zu ignorieren. Mit anderen Worten, man sollte das Problem unter den Teppich kehren.
Aus der Sicht von elektrosensiblen Menschen ist ein solches Gerede realitätsfremd. Dieser Ansatz hilft nur, wenn die elektromagnetische Empfindlichkeit noch gering ist und/ oder die elektromagnetische Belastung durch die Umwelt gering ist. Man versuche die gleiche Forderung bei Pollenallergie anzusetzen. Es ist nutzlos.
Um sich zu erholen und zu überleben, versucht jeder elektrosensible Mensch von Zeit zu Zeit, seine Empfindlichkeit und elektromagnetische Strahlung aus seinem Bewusstsein auszublenden. Ist die elektromagnetische Belastung in der Umwelt jedoch hoch oder ist die elektrosensible Person hoch sensibilisiert und leidet selbst bei geringer Belastung unter schweren Symptomen, gelingt dies nicht. Je schwieriger die Lebensbedingungen einer elektrosensiblen Person sind, desto schwieriger ist es, auch nur gelegentlich Erfolg zu haben.
Die Geschichte der psychogenen Fehldiagnosen
Die Stigmatisierung der Elektrosensibilität als Folge “psychischer Ursachen“ sollte im Lichte der Krankengeschichte betrachtet werden.
Zu den Krankheiten, die früher als rein psychologisch betrachtet wurden, für die aber inzwischen starke physiologische Ursachen festgestellt wurden, gehört die peptische Ulkuskrankheit (entzündliche Defekte der Magen- oder Darmschleimhaut), von der man inzwischen weiß, dass Helicobacter (Bakterium) das Risiko deutlich erhöht. Psychogene Ursachen wurden in der Vergangenheit auch für das Reizdarmsyndrom und die Dystonie (neurologische Störung mit unwillkürlichen Muskelbewegungen) sowie für Asthma, Fibromyalgie, Heuschnupfen, Bluthochdruck, Diabetes und Augensymptome in Betracht gezogen (Pikoff 2010).
Heute wissen wir, dass psychogene Ursachen bei diesen und vielen anderen Krankheiten zwar häufig eine Rolle spielen, es aber zu einfach ist, diese Krankheiten als ausschließlich oder sogar hauptsächlich psychologisch bedingt anzusehen.
Die frühere psychologisierende Fehldiagnose dieser Krankheiten erscheint heute eher peinlich. Die Ursache für diese psychologisierende Fehldiagnose ist in der starken Voreingenommenheit des Arztes zu sehen: Wenn er nicht glauben will, dass die Krankheit physiologische Ursachen hat, erklärt er sie zwangsweise durch psychologische Faktoren, ohne die gegenteiligen Beweise anerkennen zu wollen, die auch im Fall der Elektrosensibilität reichlich vorhanden sind, wie später in diesem Beitrag erörtert wird.
Wenn die Ärzteschaft aus den Fehlern der Vergangenheit lernen will, muss sie offener sein und den Patienten zuhören, anstatt sich auf vorgefasste Erklärungen zu verlassen, die auf ihren eigenen Glaubenssystemen beruhen. Dies wird auch in der wissenschaftlichen Literatur empfohlen:
„Menschen, die an elektromagnetischer Überempfindlichkeit leiden, sollten nicht länger vernachlässigt oder stigmatisiert werden, nur weil es kein Handlungsmodell für diesen Zustand gibt. Die Art und Weise, wie die Wissenschaft mit elektromagnetischer Hypersensibilität umgeht, braucht, um Stirling zu zitieren, ‚einen willkommenen Anreiz zu mehr Demut'“ – Tuengler et al. 2013
Das Stigma hält Menschen davon ab, eine Behandlung zu suchen
Essi Rovamo (Universität Ostfinnland; Entwicklerin von Sozialarbeit und Doktorandin)
„Das Stigma hat große Auswirkungen auf die Menschen.Mehrere internationale Studien haben ergeben, dass das Stigma viele Menschen davon abhält, sich behandeln zu lassen. Sie wissen, dass man sie schlecht behandeln wird. Außerdem wird ihr Bedürfnis nach Hilfe in Frage gestellt.“ (Tiessalo 2021)
Psychologisierung der Elektrosensibilität ist eine schlechte Therapie
Die Einstufung von Elektrosensibilität als ein mit Nocebo-Effekt zusammenhängendes Symptom hat viele Nachteile. Erstens erzeugt eine solche Fehldiagnose bei dem elektrosensiblen Patienten ein unmittelbares Gefühl der Abwertung und ein Missverständnis der tatsächlichen Erfahrung. Sie führt zu Gefühlen der Frustration und Angst.
Zweitens verhindert die Einstufung der Elektrosensibilität als psychogene Erkrankung eine angemessene Behandlung und führt häufig zu einer Verschlechterung des Zustands des Patienten. Eine als psychogen eingestufte Elektrosensibilität kann nicht richtig behandelt werden, da die eigentliche Ursache der Krankheit in der elektromagnetischen Belastung liegt. Wird diese nicht reduziert und der Patient nicht mit Mitteln unterstützt, die sich in der Forschung und in der klinischen Praxis bei Elektrosensibilität als hilfreich erwiesen haben, wird sich der Zustand des Patienten weiter verschlechtern.
Fehldiagnosen führen auch zur Ausgrenzung von Elektrosensiblen. Wenn sie das Gefühl haben, dass sie vom Gesundheitssystem nicht angemessen behandelt werden, neigen sie eher dazu, über ihren Zustand zu schweigen. Es ist bekannt, dass elektrosensible Menschen jahrzehntelang über ihre Krankheit geschwiegen haben. Dies geschah, obwohl die Symptome schwerwiegend waren und die Krankheit zu Behinderungen und in den schlimmsten Fällen zu einem völligen Ausschluss aus der Gesellschaft führte.
Elektrosensibilität aufgrund der Exposition gegenüber elektromagnetischer Strahlung
Es gibt gute wissenschaftliche Gründe für die Annahme, dass Elektrosensibilität hauptsächlich durch die Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern verursacht wird. Erstens haben Provokationsstudien ergeben, dass einige Teilnehmer sofortige und schwere Symptome einer elektromagnetischen Exposition erfahren. Der vielleicht deutlichste und dramatischste Beweis stammt aus einer kontrollierten und wiederholten Studie von Dr. Magda Havasi, in der Probanden der Strahlung eines schnurlosen DECT-Telefons ausgesetzt wurden. Einige der Probanden zeigten dramatische Symptome in ihren Herzkurven, wie im folgenden Video zu sehen ist.
DECT-Telefone und Mikrowellenstrahlung: Auswirkung auf das Herz
Die Studie zeigt eindeutig, dass die Mikrowellenstrahlung einer Basisstation für schnurlose digitale Telefone, die mit 2,4 GHz arbeitet, sich unmittelbar auf das Herz auswirkt und Arrhythmien und Tachykardien (unregelmäßige und schnelle Herzfrequenz) bei nicht-thermischen Werten verursacht, die weit unter den staatlichen Richtlinien liegt.
Ein neuer wissenschaftlicher Artikel von Dr. Magda Havasi beschreibt die schädlichen biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder in noch größerem Umfang. Sie berichtet u. a., dass elektromagnetische Exposition häufig mit der Bildung von sogenannten Rouleaux im Blut in Verbindung gebracht wird, die mit Entzündungen und einem höheren Risiko für Blutgerinnsel in Verbindung gebracht werden (Havas, 2013). Die Symptome der Elektrosensibilität sind auch deshalb plausibel, weil zahlreiche Studien viele Mechanismen aufgezeigt haben, durch die elektromagnetische Felder biologisch schädlich für Menschen oder Versuchstiere sind.
Elektromagnetische Felder und Strahlung sind z. B. die Ursache von:
- Kalziumaustritt aus den Zellen (Blackman, 1988)
- Durchsickern der Blut-Hirn-Schranke und neurologische Schäden an den Stellen des Auslaufens (Nittby, 2009)
- Veränderung der körpereigenen Produktion von Antioxidantien (Kesari, 2011)
- erhöhter oxidativer Stress in Zellen (De Iuliis, 2009)
- DNA-Schäden und verzögerte Reparatur (Liu 2013)
- Erhöhte Werte von Stressproteinen und verminderte Immunität (Agustiño, 2012)
- Auswirkung auf die Zirbeldrüse und folglich verringerte Melatonin- und Serotoninproduktion (Henshaw, 2005)
- Veränderungen im EEG und verminderte Schlafqualität (Lowden, 2011)
- Schädigung der Spermien (De Iuliis, 2009)
Die Liste der schädlichen Veränderungen ist lang, und jeder, der sich in der Medizin auskennt, weiß, dass z. B. der oxidative Stress ein negatives Phänomen ist, dessen Zunahme im Körper verhindert werden sollte. In hohem Maße beschleunigt oxidativer Stress die Alterung und die Entwicklung chronischer degenerativer Krankheiten. Oxidativer Stress und DNA-Schäden können auch das Krebsrisiko erhöhen.
Darüber hinaus haben epidemiologische Studien elektromagnetische Strahlung mit einer Vielzahl von Symptomen und Krankheiten in Verbindung gebracht, von neurologischen Symptomen bis hin zu Leukämie bei Kindern und Brustkrebs (Khurana 2010).
Insgesamt gibt es eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, die darauf hindeuten, dass elektromagnetische Strahlung -sowohl niederfrequente Magnetfelder als auch Mikrowellenstrahlung aus der drahtlosen Technologie- biologisch und gesundheitlich schädlich ist, wenn sie in ihrem derzeitigen Umfang genutzt wird. Es ist nicht verwunderlich, dass auch viele Menschen die Schäden an ihrem Körper spüren.
Pflanzen und Tiere leiden nicht unter dem Nocebo-Effekt
Es ist bemerkenswert, dass 3 wissenschaftliche Übersichtsartikel, die auf umfangreichen Forschungsergebnissen beruhen, bereits zeigen, dass elektromagnetische Strahlung auch für Tiere und Pflanzen schädlich ist (Cucurachi 2013). Da Pflanzen und Tiere keine Angst vor Strahlung haben, kann der Schaden nicht durch einen Nocebo-Effekt erklärt werden.
Da elektromagnetische Strahlung eindeutig Stress im Körper auslöst, ist es plausibel, dass Menschen davon betroffen sein könnten. Andererseits zeigen Studien, dass es biologische Unterschiede in der Empfindlichkeit zwischen den Menschen gibt, was erklärt, warum nur diejenigen, die elektrisch empfindlich sind, Symptome erfahren.
Nachweis: Veränderung der Herz-Frequenz bei Mensch und Tier bei elektromagnetischer Belastung